RR* Stimmen

„Im Schauspieler erleben wir stellvertretend unsere eigenen Emotionen, oder zumindest jene, die wir uns einbilden zu haben...“ In seinem Text über Ruth Riesers Darstellung der Susanne Ressel in „Gebürtig“ fragt der Dokumentarist und Autor Georg Stefan Troller nach dem „alle Zeiten viel umrätselten Geheimnis der Schauspielerei.“

Mit ihm kommen an dieser Stelle Menschen zu Wort, die Ruth Rieser von Bühne und Film sehr gut kennen: die Regisseure Martin Kusej und Dietmar Pflegerl sowie der Dramatiker Peter Turrini.


Martin Kusej über Ruth Rieser

Draußen schneit es. Am Horizont, drüben, am anderen Ufer des Flusses, verschwinden die Berge im Weiß. Dort, an ihrem Fuß, liegt die Landschaft, von der sie gekommen ist. Jetzt steht sie da am Wasser, eine bleiche Braut, eine schöne Frau, eine ewige Sehnsucht. Immer wird sie dasein, auch wenn es Nacht wird und die Fackeln ihrem Gesicht wärmere Farbe geben; auch wenn es heiß und Sommer sein wird; auch wenn der Mann tot sein wird. Ganz langsam schweben unzählige Briefe im Wasser vorüber. Sie umkreisen sie schwimmend, aber berühren sie nicht.

Der Mann hatte sie alle geschrieben, aber über seine Sehnsucht nach ihr seinen eigenen Namen vergessen. Im todeshalligen Klingeln der schwarzen Telefone geht er unter, ein brennendes Boot. Die Frau versucht ihn zu retten, ihre Stimme schlägt über, versinkt verzweifelt selber fast in den Wellen - nur weil das Wasser gefriert, kann sie sich halten. Ihre Klage wieder schön wie ein Eiskunstlauf in der Luft. Im Hain, unbemerkt hinter ihr, sitzt ein anderer Mann und weint. Dann, plötzlich verliert sie den Halt, und fällt, ein junges Mädchen geworden, der Liebe in den Rachen. Nein, sie fällt, weil sie liebt.

Wieder und wieder sackt sie in sich zusammen, wie die Puppe, der man die Fäden gekappt hat; aber sie kann den sicheren Boden doch nicht erreichen. Immer fängt sie einer auf - der Vater, der Geliebte, der Mann - so wird die Ohnmacht zum Zustand ihres Lebens. Früher saß sie, anmutiges Wesen der Unschuld, festgekrallt in der Steilwand. Ein Objekt der Begierde von Geiern, von Menschen, von Liebenden. An ihrem offenen Herzen machten sie ihre Operation und saugten der jungen Frau doch nur das letzte Gefühl aus. Angesteckt von den himmelhoch stürmenden Träumen verfiel sie in tödlichen Taumel, überrollt von den tönernen Körpern der heiligen Jungfrau Maria. Scherbenhaufen. Blutlachen. Herztrümmer.

Ein letztes Licht. Ein verschwitzter Brief. Ein toter Geliebter. Gift. Das wird das Ende sein ... Stille. Nichts mehr. Tiefer Wald. Wie verzaubert verfolgen nun alle den Lauf ihres Lebens. Es ist einer dieser letzten Läufe, ein Tanz im Labyrinth mehr, oder ein verwirrtes Kriechen über feurige Erde. Denn seltsam: eigentlich war immer und immer nur sie gestorben. Ihr gläserner Sarg war das Leben selbst gewesen, der vergiftete Apfel der Mann, an dem sie erstickte. Keine Ruhe. Schönheit. Grazie. Unermüdliche Energie.

Dies hat Ruth Rieser in meinen Inszenierungen gespielt.

Martin Kusej, Regisseur


Dietmar Pflegerl über Ruth Rieser

Ich hatte die Freude mit Ruth Rieser vier Frauencharaktere zu erarbeiten, denen sie mit großer, ernsthafter Genauigkeit und ungewöhnlichem Feingefühl auf den Seelengrund ging.
Sei es als Julie in Molnars „Liliom“, Tatjana in Gorkis „Kleinbürger“, Irina in Tschechovs „Drei Schwestern“ oder Claire in Turrinis "Bei Einbruch der Dunkelheit“ – sie bezauberte durch eine ihr eigene Bühnenpräsenz und eine emotionale Wahrhaftigkeit, die sich nicht scheute die Tiefen des Schmerzes und der Trauer der Figuren auszuloten und den Weg dahin in ihrem ganzen Ausdruck nuancenreich mitzuerzählen.
Darüber hinaus habe ich sie als besonders warmherzigen Menschen kennen gelernt, der unsere gemeinsamen Produktionen durch ihre Lauterkeit bereicherte.

Dietmar Pflegerl, Regisseur


Georg Stefan Troller über Ruth Rieser in „Gebürtig“

Was verlangen wir letztlich vom Filmschauspieler? Wahrscheinlich dass wir auf sein Gesicht und auf seinen Körper sämtliche Gefühle hinprojizieren können, die uns selber Lust bereiten. Im Schauspieler erleben wir stellvertretend unsere eigenen Emotionen, oder zumindest jene, die wir uns einbilden zu haben. Eine knifflige Angelegenheit. Warum bringt es der oder die eine, der andere weniger, manche gar nicht? Ohne dass dies notwendigerweise mit Sprachkunst oder Schönheit der Züge oder der Gestalt zu tun hat, obwohl diese natürlich dazu beitragen können? Es ist das durch alle Zeiten vielumrätselte Geheimnis der Schauspielerei.

Als Robert Schindel und ich, unter Mithilfe von Lukas Stepanik, über Monate am Drehbuch zu Roberts Roman „Gebürtig“ arbeiteten, kannte ich Ruth Rieser noch gar nicht. Die Figur der „Susanne“ aber sah ich bereits vor mir als die seelenvollste des Films. Als diejenige, an der sich die Gefühle des Zuschauers voll festmachen konnten. Hier ist eine junge, moderne und wohl linke Journalistin, die mit einem witzigen und flatterhaften Wiener Kabarettisten zusammenlebt. Sie verliert ihn an eine Andere, und ist nun entschlossen, wenigstens vorläufig, mit ihrem alten Vater und ihrer Katze allein zu bleiben – warum eigentlich? Vielleicht ist sie einfach nicht leichtlebig oder leichtfertig genug, um sich gleich einen anderen Freund zu suchen. Vielleicht auch ist ihr nur die richtige, dauernde Liebe etwas wert.

Und das Unglaubliche geschieht: Sie findet diese Liebe, wo sie am wenigstens zu erwarten war. Nämlich in der Person des pessimistischen jüdischen Emigranten Gebirtig in New York. Ein Mann, der anscheinend schon längst auf Lebensglück verzichtet hat und an nichts mehr glaubt. Ein unmögliches Gespann – das habe ich, unter den vielen anderen Strängen der Vorlage, herauszuarbeiten versucht. Immer in der Hoffnung, es würde sich eine Schauspielerin finden, die in verhältnismäßig wenigen Szenen – zu mehr hatten wir nicht Raum – dieses Unglaubhafte uns glaubhaft machen könne. Ja, mehr als das: Nämlich uns sympathisch und billigenswert machen, wie hier zwei so unterschiedliche Menschen zueinanderfinden. Obschon es ja zu Anfang Streit gibt, weil Susanne ihren politisch engagierten Vater gegenüber dem zynischen Gebirtig zu verteidigen hat.

Und weil sie so etwas kann, weil sie (sie zeigt es auch in anderen Szenen) selber ergriffen ihre Ergriffenheit scheinbar absichtslos auf uns übertragen kann, halte ich Ruth Rieser für eine große Schauspielerin.

Georg Stefan Troller, Autor und Filmemacher


Peter Turrini über Ruth Rieser

Immer wieder, über die Jahre, sehe ich Ruth Rieser in einem Theaterstück oder in einem Film. Es ist nicht nur ein Hinschauen, ein Ansehen, es ist eine Faszination, die ich bei ihrem Spiel empfinde. Ich habe selten eine Schauspielerin gesehen, die zwei so widersprüchliche Grundhaltungen in sich vereinigt: eine ganz große, geheimnisvolle Poesie und einen sehr irdischen Realismus. Sie ist in ihren Rollen nicht abwechselnd das eine oder das andere, sie ist immer beides in einem.

Peter Turrini, Theaterdichter